Sie ist 89 Jahre alt. Ein wenig lässt der Kopf nach, was in ihrem Alter nicht ungewöhnlich ist, aber im Grunde geht es ihr gut. Sie hat drei Söhne und zehn Enkel. Die Frau ihres mittleren Sohns Roland, pflegt und kümmert sich um sie, wo es nötig ist. Die beiden Doppelhaushälften samt großem Garten sind über den Keller und die Terrassen miteinander verbunden. Omas Teil gilt als „Familienstammsitz“. In die andere Haushälfte sind drei Töchter eingezogen – ganz bewusst in der Absicht, sich später einmal um die Mutter kümmern zu können. Sie erinnert sich gern an ihr Leben zurück. 60 Jahre war sie mit ein- und demselben Mann verheiratet. „Stellen Sie sich das mal vor!“ Dann starb er plötzlich und unerwartet, so dass keine Zeit mehr für einen richtigen Abschied nach diesem langen gemeinsamen Leben blieb. „Ich hätte ihn gerne noch gepflegt“ , sagt sie wehmütig. Und dann gab es da auch ihre drei Enkelinnen im Nebenhaus, um die sie und ihr Mann sich oft gekümmert haben.
Denn die Eltern sind berufstätig, und da kamen die Enkelkinder häufig zu den Großeltern. Die alte Dame erzählt dies mit so großer Selbstverständlichkeit, dass man merkt, hier gibt es eine Übereinkunft: Wie sie früher geholfen hat, nimmt sie nun Hilfe entgegen. Dieser „Tausch an Sorgezeit“ zwischen den Generationen macht es jenem Part, der aktuell der nehmende ist, leichter. In diesem Fall vielleicht ein wenig zu leicht, denn im Gespräch wird deutlich, dass sie gegenüber der Schwiegertochter bisweilen recht fordernd sein kann.
Die pflegende Schwiegertochter hat auch jahrelang ihre eigene Mutter gepflegt. „Sie war unheimlich dankbar, immer zufrieden. Das Gegenteil von meiner Schwiegermutter.“ Als gelernte Sozialarbeiterin und Krankenschwester ist sie in Sachen Pflege also ein Profi der weiß, wie wichtig es ist, dass die alte Dame so weit wie möglich unabhängig und selbständig lebt. Vielleicht nimmt sie ihr gerade deswegen auch nicht alles ab, was sie ihr abnehmen könnte. Wenn sie morgens ohne Wecker zu völlig unterschiedlichen Zeiten aufsteht, macht sie sich ganz langsam allein fertig, gestürtzt auf eine Gehhilfe. Dann frühstückt sie ausgiebig und hat dann alle Zeit der Welt. Doch ihre Möglichkeiten sind beschränkt. „Ich kann fast nichts mehr sehen.“
Ihr ganzes Leben war sie sehr tatkräftig und leidet ganz offensichtlich darunter, dass sie nicht mehr so wie früher kann. Nur noch bei schönem Wetter ist sie im Garten, in dem früher viele Obstbäume standen und Gemüse angebaut wurde. Hier können die Hände, die Arbeit gewohnt sind und noch immer zupacken möchten, sich ein bisschen betätigen. Den ganzen Tag über isst sie nichts als Obst und Brot. Abends wartet sie dann darauf: von den Kindern zum Essen ins andere Haus gerufen zu werden. Fast jeden Abend holt sie sie zu Tisch. Aber, und das ist wichtig für die erwerbstätige Frau: Den Zeitpunkt, an dem gegessen wird, bestimmt sie. Das heißt, es kann auch schon einmal sein, dass die Oma warten muss, bis ihre Schwiegertochter bereit ist: „Man muss Rücksicht auf Ältere nehmen. Aber wer sie ernst nimmt, kann auch erwarten, dass sie sich auf andere einstellen“, sagt sie.
Montags, dienstags und mittwochs hat sie schon einen siebenstündigen Arbeitstag hinter sich, bevor sie sich um ihre Schwiegermutter kümmert. Sie macht im Job viele Überstunden, fährt außerhalb der regulären Büro-Arbeitszeit zu den Wohnprojekten, die vom Verein betreut werden, und ist freitags oder samstags oft noch für Vorträge unterwegs. Sie ist Mutter dreier mittlerweile erwachsener Töchter und verheiratet mit einem Mann, der seit längerer Zeit an einer schweren Krankheit leidet. Organisieren mache ihr Spaß, sagt sie. Aber alles habe seine Grenzen.
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